Artikel 295
Am 30.12.2024 aktualisiert
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Art. 295 Grundsatz

Für selbstständige Klagen über den Unterhalt von minder- und volljährigen Kindern und weitere Kinderbelange gilt das vereinfachte Verfahren.

Version vor dem 01.01.2025

Art. 295 Grundsatz

Für selbstständige Klagen gilt das vereinfachte Verfahren.

Botschaften
Botschaft 2006 S. 7366

Das erste Kapitel enthält Bestimmungen, die dem Kindeswohl dienen:– Artikel 295 schreibt für selbstständige Klagen – streitwertunabhängig – das vereinfachte Verfahren vor (vgl. Art. 243 ff.). Solche Klagen sind namentlich selbstständige Unterhaltsklagen (vgl. Art. 276 ff. ZGB ), aber auch Klagen betreffend Feststellung oder Anfechtung des Kindesverhältnisses. Für die Vaterschaftsklage sind zusätzlich besondere Bestimmungen zu beachten (Art. 303).

(auch) unter der revZPO anwendbarBotschaft 2020

S. 2717: s. Botschaft unter Art. 288.

S. 2766 ff.: Art. 295

Artikel 295 ZPO legt als Grundsatz fest, dass für selbstständige Klagen in Kinderbelangen das vereinfachte Verfahren gilt. Insbesondere selbstständige Unterhaltsklagen nach Artikel 279 ff. ZGB oder Klagen betreffend die Anfechtung oder Feststellung des Kindesverhältnisses (Art. 256, 260a resp. 261 ZGB, sog. Statusprozesse) werden demnach im vereinfachten Verfahren durchgeführt. Nach Artikel 296 ZPO gilt in diesen Fällen überdies der strenge Untersuchungsgrundsatz (Art. 296 Abs. 1 ZPO: «Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amtes wegen»; vgl. die Erläuterungen zu dieser Bestimmung) und der Offizialgrundsatz, das heisst, das Gericht ist nicht an die Parteianträge gebunden (Art. 296 Abs. 3 ZPO).

Die Regelung betrifft nur Kinderbelange im engeren Sinne, das heisst Klagen von minderjährigen Kindern. Was für Klagen volljähriger Kinder und damit insbesondere Klagen auf «Volljährigenunterhalt» gilt, ist demgegenüber für das geltende Recht unklar. So wurde die Frage der auf Unterhaltsklagen volljähriger Kinder anwendbaren Verfahrensart noch nicht abschliessend entschieden, auch wenn das Bundesgericht (obiter) ohne Auseinandersetzung mit den Argumenten eine gewisse Tendenz offenbarte, die für die Anwendung des ordentlichen Verfahrens und gegen die Anwendung des uneingeschränkten Untersuchungsgrundsatzes und des Offizialgrundsatzes bei volljährigen Kindern spricht (BGE 139 III 368 E. 2 und 3, insb. E. 3.4; vgl. dazu Samuel Zogg, Das Kind im familienrechtlichen Zivilprozess, FamPra.ch 2017, S. 404 ff.). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist dagegen klar, dass die durch das Gemeinwesen geführten Klagen auf Verwandtenunterstützung (Art. 329 Abs. 3 ZGB) im ordentlichen Verfahren zu beurteilen sind (BGE 139 III 368 E. 2 und 3).

Diese unklare Rechtslage befriedigt nicht und spricht für eine gesetzliche Klarstellung. In der Vernehmlassungsvorlage hatte der Bundesrat daher einen neuen Absatz 2 vorgeschlagen, wonach für selbstständige Unterhaltsklagen von Kindern das vereinfachte Verfahren gelten solle, und zwar ungeachtet ihrer Volljährigkeit. Dieser Vorschlag fand in der Vernehmlassung zwar mehrheitlich Unterstützung; gleichzeitig regten verschiedene Teilnehmer an, dass diese Regelung nicht nur für selbständige Unterhaltsklagen, sondern generell für sämtliche selbständigen Klagen über Kinderbelage gelten sollte: Für sämtliche selbständigen Klagen sollte, das heisst auf für Klagen volljähriger Kinder (Bericht Vernehmlassung, Ziff. 6.2.4). Nach Ansicht des Bundesrates ist dies sachgerecht: Sämtliche selbständigen Klagen über Kinderbelange sollen ungeachtet der Volljährigkeit des Kindes stets im vereinfachten Verfahren beurteilt werden, weil dieses nicht nur rascher und laienfreundlicher, sondern auch grundsätzlich mündlich und flexibler in seiner Ausgestaltung ist, womit auch den spezifischen Umständen des Einzelfalls und insbesondere den Interessen des Kindes noch besser Rechnung getragen werden kann. Dabei dürfte es insbesondere sinnvoll sein, soweit möglich nach Eingang der Klage im Rahmen einer Instruktionsverhandlung nach Artikel 246 in Verbindung mit Artikel 226 ZPO nach dem Vorbild der Einigungsverhandlung bei Scheidungsklagen (Art. 291 ZPO) eine Einigung zu suchen. Entsprechend soll Artikel 295 ZPO neu formuliert werden: Das vereinfachte Verfahren soll zukünftig für alle selbstständigen Klagen gelten und zwar ausdrücklich für solche über Kinderbelange und über den Unterhalt von Kindern. Diese Regelung gilt für alle Kinderbelange und ausdrücklich für Unterhaltsklagen von Kindern, ungeachtet der Volljährigkeit des Kindes, auch wenn dies im Unterschied zum Vorentwurf nicht mehr ausdrücklich aus dem Gesetzeswortlaut hervorgeht.

Dies gilt nicht nur für Unterhaltsklagen, sondern auch für Klagen betreffend Anfechtung und Feststellung der Vaterschaft inklusive die Vaterschaftsklage und die Adoptionsanfechtungsklage des Kindes, und zwar unabhängig von der Minder- oder Volljährigkeit (oder dem Streitwert). Aufgrund des Verweises auf die Bestimmungen über die Unterhaltsklage des Kindes in Artikel 329 Absatz 3 ZGB gilt dies neu auch für Klagen betreffend Verwandtenunterstützung; diese unterstehen somit unabhängig vom Streitwert dem vereinfachten Verfahren. Im Ergebnis gilt das vereinfachte Verfahren damit in allen Klagen über Kinderbelange ausserhalb von eherechtlichen Verfahren.

Die anwendbaren Prozessgrundsätze werden im nachfolgenden Artikel 296 ZPO geregelt (vgl. auch die Erläuterungen nachfolgend). Unter geltendem Recht ist nicht abschliessend geklärt (vgl. auch BGer 5A_865/2017 vom 25. Juni 2018, E. 1.3.3), ob der uneingeschränkte Untersuchungsgrundsatz und der Offizialgrundsatz gemäss Artikel 296 ZPO lediglich in Kinderbelangen im engeren Sinne und somit bei Minderjährigen zur Anwendung kommen oder generell für Kinder ungeachtet ihrer Volljährigkeit gelten, soweit es um Kinderbelange beziehungsweise Unterhalt geht. Auch wenn sich das Bundesgericht zumindest im Fall eines subrogationsweise klagenden Gemeinwesens gegen die Anwendung dieses weitergehenden prozessualen Schutzes für volljährige Kinder geäussert hat (Vgl. BGE 139 III 368 E. 3.4 sowie bereits BGE 118 II 93; dazu ausführlich Eva Bachofner/Francesca Pesenti, Aktuelle Fragen zum Unterhaltsprozess von Volljährigen, FamPra.ch 2016, S. 619 ff.), scheint die Praxis in den Kantonen unterschiedlich zu sein (Vgl. z.B. Kantonsgericht des Kantons Obwalden, Entscheid ZV 17/001//III vom 25. Oktober 2019, E. 1 (Anwendung Art. 296 ZPO), Kantonsgericht des Kantons St. Gallen, Entscheid FO.2015.4 vom 29. April 2016, E. 1 (Anwendung Art. 296 ZPO); OGer ZH, LZ150002-O/U vom 7. Juli 2015, E. 3.1 und OGer BE, ZK 17 340 vom 30. Oktober 2018, E. 6 (keine Anwendung Art. 296 ZPO). KGer BL, Entscheid 400 2011 364 vom 20. März 2012, E. 2 (Anwendung Untersuchungsgrundsatz)). Demgegenüber spricht sich ein überwiegender Teil der Lehre für die vollumfängliche oder teilweise Anwendung von Untersuchungs- und Offizialgrundsatz für minder- und volljährige Kinder aus (Vgl. Philippe Meier, Entretien de l’enfant majeur – Un état de lieux (2/2), JdT 2019 II 32 ff., 41 f. m.w.N. sowie Jonas Schweighauser, Art. 296 N 4, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016; Annette Spycher, Art. 296 N 5 f., in: BK ZPO, Bern 2012; Christoph Herzig, Das Kind in den familienrechtlichen Verfahren, Zürich 2012, Rz. 173 ff. und 783). Sodann gelten diese Grundsätze nach der Rechtsprechung jedenfalls dann, wenn ein Kind erst während eines vor seiner Volljährigkeit eingeleiteten Verfahrens volljährig wird (Vgl. BGer 5A_524/2017 vom 9. Oktober 2017, E. 3.2.2 sowie OGer BE, ZK 17 340 vom 30. Oktober 2018, E. 14.7) oder wenn gleichzeitig über gleichrangige Unterhaltsansprüche zu entscheiden und für diese der uneingeschränkte Untersuchungsgrundsatz und der Offizialgrundsatz gilt. Ungeachtet der Volljährigkeit stets Anwendung findet die Regelung von Artikel 296 Absatz 2 ZPO (Vgl. auch Eva Bachofner/Francesca Pesenti, Aktuelle Fragen zum Unterhaltsprozess von Volljährigen, FamPra.ch 2016, S. 619 ff., 633).

Mit der vorgeschlagenen Änderung von Artikel 295 ZPO wird diese Rechtslage in erster Linie hinsichtlich der Verfahrensart geklärt: Neu soll das vereinfachte Verfahren mit seinen Erleichterungen, das heisst insbesondere der erweiterten Fragepflicht gemäss Artikel 247 Absatz 1 ZPO, für sämtliche selbstständigen Klagen über Kinderbelange inklusive Kindesunterhalt gelten, womit sich die Auswirkungen der Anwendung unterschiedlicher Prozessgrundsätze jedenfalls relativieren. Darüber hinaus macht die Anpassung von Artikel 295 ZPO deutlich, dass die Regelung von Artikel 296 ZPO für sämtliche Streitigkeiten über Kinderbelange einschliesslich Kindesunterhalt ungeachtet der Volljährigkeit des Kindes einschlägig ist (Vgl. aber nach geltendem Recht für die Möglichkeit der sogenannten teleologischen Auslegung bezüglich Offizialgrundsatz Eva Bachofner/Francesca Pesenti, Aktuelle Fragen zum Unterhaltsprozess von Volljährigen, FamPra.ch 2016, S. 619 ff., 635). Damit sowie mit einer geeigneten Prozessvertretung und Beratung im Einzelfall kann den besonderen Schwierigkeiten und Belastungen, die solche Verfahren für Kinder ungeachtet ihrer Volljährigkeit darstellen, soweit möglich begegnet werden.

Vgl. auch AB 2021 S 672 et 691; AB 2022 N 672 und 674; AB 2022 N 710; AB 2022 S 651; AB 2022 N 2262.