Art. 31 Grundsatz
Für Klagen aus Vertrag ist das Gericht am Wohnsitz oder Sitz der beklagten Partei oder an dem Ort zuständig, an dem die charakteristische Leistung zu erbringen ist.
Diese Bestimmung bringt gegenüber dem GestG eine wesentliche Neuerung: Klagen aus Vertrag sollen nicht nur am Domizil der beklagten Partei erhoben werden können, sondern alternativ auch am Erfüllungsort. Der Bundesrat schliesst sich dem Vorentwurf an und nimmt zugleich ein altes Anliegen auf, das bereits bei der Erarbeitung des Gerichtsstandsgesetzes formuliert wurde. Das Parlament hat auf diesen Gerichtsstand dann aber seinerzeit noch verzichtet80. Der Erfüllungsort gehört als Gerichtsstand in eine moderne Zivilprozessordnung. Entsprechend wurde der Vorschlag des Vorentwurfs (Art. 27 VE) in der Vernehmlassung grossmehrheitlich begrüsst. Nicht nur ist dieses Forum den meisten nationalen Rechtsordnungen Westeuropas bekannt, sondern es hat sich auch im eurointernationalen Recht durchgesetzt (Art. 5 Nr. 1 [a]LugÜ). Vor allem für Wirtschaft und Handel hat es grosse Bedeutung. Auch ist es prozessökonomisch, weil sich am Erfüllungsort in der Regel vorsorgliche Massnahmen und auch allfällige Beweisverfahren mit weniger Aufwand durchführen lassen. Trotz vieler Vorteile ist der Vertragsgerichtsstand aber nicht unproblematisch. Zum einen gilt es, den massgeblichen Erfüllungsort überhaupt erst zu definieren: Soll es der Ort sein, an dem die eingeklagte (Haupt-)Leistung nach Gesetz oder Vertrag zu erbringen ist (rechtlicher Erfüllungsort)? Oder ist es der Ort, an dem die streitige Leistung faktisch erbracht worden ist (faktischer Erfüllungsort)? Sollen gar beide Möglichkeiten gegeben sein, wie dies das Lugano-Übereinkommen vorsieht? Je offener der Erfüllungsort umschrieben wird, desto grösser ist die Gefahr einer Aufspaltung der Vertragsverhältnisse und einer Vielzahl möglicher Vertragsgerichtsstände. Dies lädt zum sog. forum running ein – eine unerwünschte Konsequenz, die das Lugano-Übereinkommen deutlich aufgezeigt hat. Anders als der seinerzeitige Vorschlag zum Gerichtsstandsgesetz – und abweichend vom Lugano- Übereinkommen – definiert der Entwurf den Erfüllungsort daher eng: Er bestimmt sich ausschliesslich durch den Ort, an dem die charakteristische Leistung zu erbringen ist (vgl. z.B. Art. 117 IPRG). Jeder Vertrag hat in der Regel nur eine charakteristische Leistung, so dass ein unnötiges Splitting der Gerichtsstände vermieden wird. Wo die charakteristische Leistung erbracht werden muss, kann vertraglich geregelt werden. Fehlt eine vertragliche Bestimmung, so greift Artikel 74 OR. Bei den vollkommen zweiseitigen (synallagmatischen) Verträgen wird durch die enge Formulierung zudem die besondere Problematik für die Vertragspartei entschärft, die als Gegenleistung eine Geldsumme (z.B. Kaufpreis) zu bezahlen hat. Geldschulden sind vermutungsweise Bringschulden (Art. 74 OR), doch ginge nicht an, dem Gläubiger (z.B. dem Verkäufer) am eigenen Wohnsitz jeweils einen Klägergerichtsstand zu öffnen. Weil die Geldleistung beim Kauf jedoch nicht die charakteristische Leistung ist, entfällt das unerwünschte forum actoris des Verkäufers. Die enge Umschreibung des Erfüllungsgerichtsstandes lehnt sich an Artikel 5 Ziff. 1 der EG-Verordnung 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen und die laufende Revision
des Lugano-Übereinkommens an. Die Lösung des Entwurfs ist aber insofern einfacher, als sie über die Warenkaufs- und Dienstleistungsverträge hinausgeht. Hervorzuheben ist, dass der Gerichtsstand des Erfüllungsortes nicht für alle Vertragstypen gilt. Spezielle gesetzliche Gerichtsstände verdrängen ihn, insbesondere jene des sozialen Privatrechts (Konsumentenvertrag, Miete und Pacht, Arbeitsrecht). Deren Gerichtsstände gehen als leges speciales dem allgemeinen Vertragsgerichtsstand vor (vgl. Art. 32 ff.). Auf diese Weise wird vermieden, dass sozialpolitisch motivierte besondere Gerichtsstände durch den Erfüllungsort ausgehebelt werden. Zwar ist einzuräumen, dass auch die engere Definition des Entwurfs nicht alle Probleme zu lösen vermag. Dennoch hält der Bundesrat – im Einklang mit dem Vorentwurf und dem Ergebnis der Vernehmlassung – daran fest. Durch die Justizreform haben sich die rechtlichen Rahmenbedingungen nämlich geändert: Anders als seinerzeit bei der Schaffung des Gerichtsstandsgesetzes wird heute das gesamte Prozessrecht vereinheitlicht. Der Gerichtsstand wird somit nicht mehr das anwendbare Prozessrecht bestimmen können (wodurch der beklagten Partei unter Umständen «fremdes» Recht aufgedrängt wurde), denn jedes Gericht in der Schweiz wird künftig nach den gleichen Spielregeln verfahren. Ein Abweichen vom Wohnsitzgerichtsstand fällt deswegen für die beklagte Partei weit weniger ins Gewicht. Und nicht zuletzt kann durch diesen Gerichtsstand auch die bestehende Selbstdiskriminierung der Schweiz beseitigt werden.