S. 7297 f.
Die klassische Verteilungsregel (Art. 106) kann sich im Einzelfall als starr und ungerecht erweisen. Deshalb sieht der Entwurf mit Artikel 107 eine Billigkeitsnorm vor, die dem Gericht erlaubt, die Kosten nach Ermessen zu verteilen.
Absatz 1 Buchstaben a–e nennt – nicht abschliessend – typisierte Fälle, in denen das Gericht sein Ermessen walten lassen soll. Die Kann-Vorschrift entspricht einem Anliegen aus der Vernehmlassung. Abgeschlossen wird der Katalog mit einem Auffangtatbestand (Bst. f). Die Regelung übernimmt teils kantonales Prozessrecht,... [weiter]
S. 7297 f.
Die klassische Verteilungsregel (Art. 106) kann sich im Einzelfall als
starr und ungerecht erweisen. Deshalb sieht der Entwurf mit Artikel 107
eine Billigkeitsnorm vor, die dem Gericht erlaubt, die Kosten nach Ermessen
zu verteilen.
Absatz 1 Buchstaben a–e nennt – nicht abschliessend – typisierte Fälle,
in denen das Gericht sein Ermessen walten lassen soll. Die Kann-Vorschrift
entspricht einem Anliegen aus der Vernehmlassung. Abgeschlossen wird der
Katalog mit einem Auffangtatbestand (Bst. f). Die Regelung übernimmt teils
kantonales Prozessrecht, teils bundesrechtliche Sondervorschriften.
– Ein erster Fall betrifft das Obsiegen nur im Grundsatz (Abs. 1 Bst.
a). Zu denken ist zum Beispiel an einen Haftpflichtprozess (Direktprozess
der geschädigten Person gegen die Haftpflichtversicherung), in dem die
geschädigte Person nur einen Teil der Klagesumme zugesprochen erhält. Von
daher müsste sie nach der allgemeinen Regel (Art. 106) einen substanziellen
Teil der vielleicht sehr hohen Prozesskosten übernehmen. Gerade im Haftpflichtrecht
kann die Bezifferung der Klagesumme jedoch sehr schwierig sein, so dass
stets ein Risiko der sog. Überklagung besteht. Die Billigkeit kann deswegen
für die volle Kostenpflicht der beklagten Versicherung sprechen. Auch das
ungleiche wirtschaftliche Kräfteverhältnis der Parteien – zu subsumieren
unter dem Auffangtatbestand (Bst. f) – kann ein Abweichen von der allgemeinen
Verteilungsregel rechtfertigen.
– Ein anderer Fall betrifft die gutgläubige Prozessführung (Abs. 1 Bst.
b). Eine Partei mag auf eine Praxis vertraut haben, die ausgerechnet in
ihrem Fall geändert wird. Denkbar ist auch ein (Klein-)Aktionär, der eine
Verantwortlichkeitsklage führt und verliert. Für die Entlastung der Kleinaktionärin
oder des Kleinaktionärs spricht zudem das ungleiche wirtschaftliche Kräfteverhältnis
der Parteien, ausserdem das öffentliche Interesse, dass der Aktionärsschutz
(wie z.B. auch das Auskunfts- und Einsichtsrecht sowie die Sonderprüfung)
tatsächlich durchgesetzt wird (vgl. Bst. f).
– Der Billigkeitsnorm unterstehen sodann typischerweise die familienrechtlichen
Verfahren (Abs. 1 Bst. c). Dazu gehören auch die Anordnung der Vertretung
des Kindes (Art. 98 Abs. 1 Bst. d VE) und die Verfahren betreffend die
eingetragene Partnerschaft (Abs. 1 Bst. d). Bei Scheidungen auf gemeinsames
Begehren liegt ein billiger Kostenentscheid sogar auf der Hand: Es wäre
sinnwidrig, in diesen Verfahren von obsiegenden und unterliegenden
Parteien zu sprechen.
– Wird das Verfahren als gegenstandslos abgeschrieben, liegt die Verteilung
der Prozesskosten ebenfalls im Ermessen des Gerichts (Abs. 1 Bst. e). Dabei
ist etwa zu berücksichtigen, welche Partei Anlass zur Klage gegeben hat,
welches der mutmassliche Prozessausgang gewesen wäre und bei welcher Partei
die Gründe eingetreten sind, die dazu geführt haben, dass das Verfahren
gegenstandslos wurde133. Es ist selbstverständlich, dass die Parteien dazu
anzuhören sind.
– Der Auffangtatbestand (Abs. 1 Bst. f) nennt andere besondere Umstände.
Das kann – wie erwähnt – beispielsweise ein sehr ungleiches wirtschaftliches
Kräfteverhältnis der Parteien sein. Ferner ist ein Ermessensentscheid etwa
angezeigt, wenn die beklagte Partei zwar dank Verrechnung obsiegt, das
Gericht aber viele unbegründete Verrechnungsforderungen beurteilen musste,
bevor die Klage endlich abgewiesen werden konnte. Die Billigkeitsnorm von
Artikel 107 erlaubt es, im materiellen Bundesrecht verstreute Einzelregelungen
aufzuheben, so betreffend die Anfechtung von Generalversammlungsbeschlüssen
der Aktiengesellschaft (Art. 706a Abs. 3 OR) oder die aktienrechtliche
Verantwortlichkeit (Art. 756 Abs. 2 OR; vgl. Anhang Ziff. 5). Spezialgesetzliche
Kostenverteilungen wie z.B. bei der patentrechtlichen Stufenklage (Art. 71
PatG) oder bei der .berprüfung der Anteils- und Mitgliedschaftsrechte
bei einer Fusion, Spaltung oder Umwandlung (Art. 105
Abs. 3 FusG) bleiben um der Klarheit willen im jeweiligen Spezialgesetz.
Diese Fälle sind zu singulär, um
ohne weiteres aus einer allgemeinen Billigkeitsnorm abgeleitet werden
zu können. Absatz 2 statuiert eine Billigkeitshaftung des Kantons: Kosten,
die weder die Parteien noch Dritte veranlasst haben, kann das Gericht dem
Kanton auferlegen.