S. 7386 ff.
Vollstreckung öffentlicher Urkunden (Art. 347-352) : Mit der vollstreckbaren öffentlichen Urkunde führt der Entwurf ein neues Institut in die schweizerische Rechtsordnung ein. Im europäischen Rechtsraum ist sie weit verbreitet (so in unseren Nachbarländern, aber auch in Schottland, Spanien, Portugal, Griechenland, Belgien, Luxemburg und in den Niederlanden). Allerdings besteht kein einheitlicher (europäischer) Typus, denn die einzelnen Staaten gestalten die vollstreckbare Urkunde unterschiedlich aus. Entsprechend gross ist Spielraum auch für den schweizerischen Gesetzgeber: Das Institut kann auf die jeweilige Rechtsordnung zugeschnitten werden. Vereinfacht ausgedrückt berechtigt diese Urkunde eine Partei, die Vollstreckung für den beurkundeten Anspruch direkt einzuleiten – ohne zuvor einen Zivilprozess führen zu müssen. Die Urkunde ist somit aus sich selbst vollstreckbar, obwohl ihr die Autorität der Rechtskraft fehlt. Der verpflichteten Partei bleibt es daher unbenommen, den Anspruch trotz laufender Vollstreckung gerichtlich beurteilen zu lassen. Doch kommt ihr dabei die oft schwierigere Klägerrolle zu. Und die Vollstreckung wird durch den inzidenten Zivilprozess nicht automatisch aufgehalten. In der Vernehmlassung blieb das neue Institut umstritten.
– So wurde bereits der Bedarf bezweifelt, denn Urkunden – öffentliche und private – können schon heute Vollstreckungstitel sein (als Schuldanerkennungen bei der provisorischen Rechtsöffnung nach Art. 82 SchKG).
– Allgemein befürchtet wurde eine Privilegierung marktmächtiger Gläubiger
(z.B. Kreditgeber), insbesondere gegenüber kleineren und mittleren Unternehmen sowie Konsumentinnen und Konsumenten.
– Kritisiert wurde sodann die Besserstellung der Urkunde gegenüber Gerichtsurteilen bei der Vollstreckung in Geld. Nach dem Vorentwurf hätte die Vollstreckbarerklärung den Gläubiger nämlich direkt zum Fortsetzungsbegehren ermächtigt (Art. 88 SchKG) – ohne vorgängige Betreibung (vgl. Art. 341 VE). Dies hätte den Urkundengläubiger nicht nur verfahrensrechtlich, sondern auch zeitlich bevorteilt (vgl. Art. 110 SchKG).
– Abgelehnt wurde das «Vorverfahren» auf Erteilung der sog. Vollstreckungsklausel durch die Urkundsperson (Art. 339 VE): Zum einen wurde es als zu schwerfällig empfunden, zum andern erschien die (beschränkte) Kognition der Urkundsperson systemfremd und unklar.
Der Entwurf trägt dieser Kritik Rechnung (vgl. die Erläuterungen bei den einzelnen Artikeln), hält aber an der vollstreckbaren Urkunde fest – und zwar aus folgenden Gründen:
– Zunächst kann dadurch die Diskriminierung der Schweiz gegenüber jenen Staaten beseitigt werden, die dem Lugano-Übereinkommen beigetreten sind. Schon heute sind deren öffentliche Urkunden in der Schweiz in den gleichen Verfahren wie Urteile zu vollstrecken (Art. 50 LugÜ), während die schweizerischen Urkunden – mangels klarer gesetzlicher Regelung – im Ausland nicht dieselbe Garantie geniessen.
– Sodann kann die vollstreckbare Urkunde auch dem innerstaatlichen Rechtsverkehr erhebliche Vorteile bringen – durch Erleichterung der Vollstreckung (Gläubigerschutz) und Entlastung der Gerichte.
S. 7387 f.: Art. 347: Die vollstreckbare Urkunde kann grundsätzlich jede Art von Leistungen zum Gegenstand haben (Einleitungssatz; für die Ausnahmen vgl. Art. 348): So z.B. einmalige oder wiederkehrende Geldleistungen (z.B. Rückzahlung und Verzinsung eines Darlehens, Ausrichtung einer Rente), Sachleistungen (z.B. Lieferung einer beweglichen Sache, Bauleistungen), Abgabe einer Willenserklärung (z.B. einer Grundbuchanmeldung zur Übertragung von Grundeigentum oder zwecks Einräumung eines beschränkten dinglichen Rechts an einem Grundstück). Je nachdem, ob die Urkunde eine Geldleistung oder eine andere Leistung (Realleistung) verbrieft, verläuft die Vollstreckung aber anders:
– Eine Geldleistung wird wie bisher durch Betreibung vollstreckt, wobei die besondere Urkunde neu einen definitiven Rechtsöffnungstitel abgibt (Art. 349).
– Die Urkunde über eine Realleistung wird im besonderen Verfahren nach den Art. 350 und 351 des Entwurfs vollstreckt.
Um jedoch in diesem Sinne vollstreckbar zu sein, hat die Urkunde – formal und inhaltlich – bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen:
1. Sie muss nach den einschlägigen kantonalen Beurkundungsvorschriften hergestellt worden sein (Art. 55 SchlT ZGB).
2. Sie hat eine so genannte Unterwerfungserklärung der verpflichteten Partei zu enthalten (Bst. a). Die Unterwerfung unter die direkte Vollstreckung erfolgt durch diese Partei persönlich; Stellvertretung ist jedoch – bei ausdrücklicher Vollmacht – zulässig. Die Urkundsperson trifft eine besondere Rechtsbelehrungspflicht: Sie hat die verpflichtete Partei über die Konsequenzen aufzuklären.
3. Der Rechtsgrund der versprochenen Leistung ist in der Urkunde zu erwähnen (Bst. b). Doch ist nicht nötig, das ganze Verpflichtungsgeschäft öffentlich zu beurkunden. Somit kann eine vollstreckbare Urkunde auch nachträglich ausgefertigt werden, auch für Leistungen, die ursprünglich mündlich, elektronisch oder in einfacher Schriftlichkeit vereinbart wurden. Ein abstraktes Schuldversprechen genügt hingegen nicht.
4. Die geschuldete Leistung ist in der Urkunde genügend zu bestimmen (Bst. c, Ziff. 1). So muss eine Geldleistung ziffernmässig festgestellt oder zweifelsfrei berechnet werden können. Es gelten die gleichen Kriterien wie für die Schuldanerkennung nach SchKG.
5. Die verpflichtete Partei muss die geschuldete Leistung in der Urkunde anerkannt haben (Bst. c Ziff. 2).
6. Schliesslich muss die geschuldete Leistung fällig sein (Bst. c. Ziff. 3), eine Geldleistung spätestens im Zeitpunkt der Zustellung des Zahlungsbefehls (Art. 71 f. SchKG), eine andere Leistung im Zeitpunkt der Zustellung der Urkunde an die verpflichtete Partei (Art. 350 Abs. 1).
Die direkte Vollstreckung der Urkunde ist eine freie Option der berechtigten Partei. Sie kann stattdessen zunächst den Prozessweg beschreiten, um den Anspruch gerichtlich beurteilen zu lassen, und alsdann den Gerichtsentscheid auf normalem Weg vollstrecken.