Artikel 71
Am 06.01.2025 aktualisiert
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Art. 71 Einfache Streitgenossenschaft

1 Mehrere Personen können gemeinsam klagen oder beklagt werden, sofern:  

  • a. Rechte und Pflichten beurteilt werden sollen, die auf gleichartigen Tatsachen oder Rechtsgründen beruhen;  

  • b. für die einzelnen Klagen die gleiche Verfahrensart anwendbar ist; und  

  • c. das gleiche Gericht sachlich zuständig ist.

  

2 Jeder Streitgenosse kann den Prozess unabhängig von den andern Streitgenossen führen.  

Version vor dem 01.01.2025

Art. 71 Einfache Streitgenossenschaft

1 Sollen Rechte und Pflichten beurteilt werden, die auf gleichartigen Tatsachen oder Rechtsgründen beruhen, so können mehrere Personen gemeinsam klagen oder beklagt werden.

2 Die einfache Streitgenossenschaft ist ausgeschlossen, wenn für die einzelnen Klagen nicht die gleiche Verfahrensart anwendbar ist.

3 Jeder Streitgenosse kann den Prozess unabhängig von den andern Streitgenossen führen.

Botschaften
Botschaft 2006 S . 7281

Absatz 1 definiert die einfache Streitgenossenschaft. Voraussetzung für ein gemeinsames Vorgehen ist das Vorliegen gleichartiger Tatsachen oder Rechtsgründe. Zu denken ist etwa an die Mieterinnen und Mieter eines Mehrfamilienhauses, die gemeinsam eine Mietzinserhöhung anfechten, oder an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, welche sich gemeinsam gegen eine ungerechtfertigte Massenentlassung wehren. Denkbar ist auch, dass Konsumentinnen und Konsumenten vom gleichen fehlerhaften Produkt betroffen sind und gemeinsam gegen den Hersteller oder die Herstellerin klagen. Hier übernimmt die Streitgenossenschaft gewissermassen die Funktion einer «Sammelklage», mit dem bedeutsamen Unterschied freilich, dass jede klagende Person Parteistellung hat (vgl. die Erläuterungen zu Art. 91) und aus freiem Willen am Verfahren teilnimmt. Aktive einfache Streitgenossenschaften (mehrere Kläger oder Klägerinnen gegen eine beklagte Person) sind freiwillige Streitgenossenschaften, denn anders als bei der notwendigen könnten die Klagen auch getrennt erhoben werden. Nur aus Zweckm.ssigkeitsgründen werden sie in einem Prozess vereinigt – nicht weil es das materielle Recht verlangt. Einfache Streitgenossenschaften sind auch auf der Beklagtenseite denkbar, so bei der Klage einer geschädigten Person gegen mehrere Schädiger. Nach 

Absatz 2 ist die subjektive Klagenhäufung – so wird die Streitgenossenschaft auch genannt – nur dann zulässig, wenn für sämtliche Ansprüche die gleiche Verfahrensart gilt (ordentliches, vereinfachtes oder summarisches Verfahren). Das entspricht dem geltenden Recht. Trotz Zusammenrechnung des Streitwerts bleibt die Verfahrensart erhalten (Art. 93 Abs. 2). Wenn sich somit zehn Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu einer Streitgenossenschaft zusammenschliessen und gegen ihren Arbeitgeber je 5000 Franken einklagen, so bleibt das vereinfachte Verfahren anwendbar (Art. 243), obwohl der Streitwert nun insgesamt 50 000 Franken beträgt. Gerade auf dem Gebiet des sozialen Privatrechts würde der drohende Wechsel ins ordentliche Verfahren die Bildung von Streitgenossenschaften faktisch ausschliessen. 

Absatz 3 nimmt eine Forderung aus dem Vernehmlassungsverfahren auf und bestimmt, dass jeder Streitgenosse den Prozess unabhängig von den anderen führen kann.

(auch) unter der revZPO anwendbarBotschaft 2020 

S. 2714: Die Regelung der einfachen Streitgenossenschaft soll formal und inhaltlich unter Berücksichtigung der bundesgerichtlichen Praxis überarbeitet werden, ohne dass dabei an den Grundsätzen des geltenden Rechts etwas geändert wird; im Unterschied zum Vorentwurf soll dabei an der Voraussetzung der gleichen Verfahrensart festgehalten werden (vgl. Art. 71 Abs. 1 E-ZPO und dessen Erläuterungen).   

S. 2733 ff.: Art. 71 Einfache Streitgenossenschaft

Die Bestimmung regelt die einfache Streitgenossenschaft, bei der mehrere Personen zur Förderung der Prozessökonomie und Entscheidungsharmonie entweder gemeinsam gegen eine einzige beklagte Partei klagen oder umgekehrt mehrere Personen gleichzeitig von einer einzigen klagenden Partei verklagt werden, ohne dass eine gemeinsame Klage vorgeschrieben oder notwendig wäre (vgl. dazu Ernst Staehelin/Silvia Schweizer, Art. 71 N 1, in: ZK ZPO, 3. Aufl., Zürich 2016; Christoph Leuenberger/Beatrice Uffer-Tobler, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2. Aufl., Bern 2016, Rz. 3.28; Tanja Domej, Art. 71 N 1, in: KUKO ZPO, 2. Aufl., Basel 2014). Davon zu unterscheiden ist die notwendige Streitgenossenschaft, bei der mehrere Personen gemeinsam klagen oder gemeinsam beklagt werden müssen, weil für oder gegen sie nur einheitlich für alle entschieden werden kann (vgl. Art. 70 ZPO).  

Die Absätze 1 und 2 regeln im geltenden Recht die Voraussetzungen der einfachen Streitgenossenschaft. Diese Bestimmungen sollen formal und inhaltlich unter Berücksichtigung der bundesgerichtlichen Praxis überarbeitet werden, ohne dabei an den Grundsätzen des geltenden Rechts etwas zu ändern. Im Gegensatz zum Vorentwurf soll an der Voraussetzung der gleichen Verfahrensart gemäss geltendem Artikel 71 Absatz 2 ZPO festgehalten werden, nachdem dieser Vorschlag in der Vernehmlassung verbreitet auf Skepsis gestossen ist (Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.8). Die einfache Streitgenossenschaft ist und bleibt damit ausgeschlossen in Fällen, in denen für die einzelnen Klagen nicht die gleiche Verfahrensart (ordentliches, vereinfachtes oder summarisches Verfahren) anwendbar ist.  

Die Voraussetzungen der einfachen Streitgenossenschaft sollen zur weiteren Verbesserung der ZPO in einem neu formulierten und neu strukturierten Absatz 1 wie folgt geregelt werden:  

- Der neue Einleitungssatz umschreibt lediglich die Streitgenossenschaft als Mehrzahl von Personen auf der Kläger- oder der Beklagtenseite.  

- Im neuen Buchstaben a wird inhaltlich unverändert festgehalten, dass stets eine sogenannte Konnexität («gleiche Tatsachen oder Rechtsgründe») zwischen den verschiedenen Klagen bestehen muss; nach der Praxis ist dieses Konnexitätserfordernis jedoch weit auszulegen, indem die Bildung einer Streitgenossenschaft im Hinblick auf den Prozessstoff zweckmässig erscheint, sei dies aus prozessökonomischen Gründen oder zur Vermeidung widersprüchlicher Urteile (Vgl. BGE 142 III 581 m.w.H., insb. auf Botschaft ZPO, BBl 2006 7281).  

- Im neuen Buchstaben b wird die Voraussetzung der gleichen Verfahrensart gemäss bisherigem Artikel 71 Absatz 2 ZPO geregelt. An dieser Voraussetzung soll auch in Zukunft festgehalten werden, selbst wenn dies grundsätzlich dazu führt, dass Klagen des ordentlichen Verfahrens und des vereinfachten Verfahrens nicht zusammen geltend gemacht werden können, auch wenn die unterschiedliche Verfahrensart ausschliesslich aufgrund des Streitwerts resultiert (vgl. Art. 243 Abs. 1 ZPO: vereinfachtes Verfahren bei vermögensrechtlichen Streitigkeiten bis 30 000 Franken). Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung hat jedoch im Falle der objektiven Klagenhäufung (Art. 90 ZPO) in Anwendung von Artikel 93 Absatz 1 ZPO zur Streitwertberechnung die Zusammenrechnung vorgängig zur Prüfung nach Artikel 90 ZPO zu erfolgen, und es sind die Voraussetzungen der gleichen sachlichen Zuständigkeit und der gleichen Verfahrensart auf Grundlage der bereits addierten Streitwerte zu prüfen (BGE 142 III 788 E. 4). Dies sollte zumindest auch für die aktive einfache Streitgenossenschaft gelten, bei der mehrere Personen gestützt auf gleichartige Tatsachen oder Rechtsgründe gemeinsam (gegen eine beklagte Partei) klagen (vgl. Alexander Wintsch/Richard Meyer, Streitwertaddition bei Klagenhäufung und einfacher Streitgenossenschaft, ZZZ 2016, S. 275 ff.). Grundsätzlich sind aber die verschiedenen Verfahrensarten aus guten Gründen nicht weiter zu vermischen.  

 - Die bundesgerichtliche Praxis zur Voraussetzung der gleichen sachlichen Zuständigkeit soll ins Gesetz überführt werden, was in der Vernehmlassung einhellig unterstützt wurde (Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.3). Dabei handelt es sich um ein zentrales Element zum Verständnis der Zulässigkeit, die sich ohne weiteres aus dem Gesetz ergeben sollte. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts handelt es sich bei der gleichen sachlichen Zuständigkeit nach geltendem Recht um eine «stillschweigende Voraussetzung» der (passiven) einfachen Streitgenossenschaft (BGE 138 III 471 E.5). Diese soll neu in einem Buchstaben c festgehalten werden.  

Als Folge dieser Neufassung wird der bisherige Absatz 3 unverändert neu zu Absatz 2.