Artikel 317
Am 18.01.2025 aktualisiert
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Art. 317 Neue Tatsachen, neue Beweismittel und Klageänderung

1 Neue Tatsachen und Beweismittel werden nur noch berücksichtigt, wenn sie:

  • a. ohne Verzug vorgebracht werden; und
    b. trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor erster Instanz vorgebracht werden konnten.

1bis Hat die Rechtsmittelinstanz den Sachverhalt von Amtes wegen zu erforschen, so berücksichtigt sie neue Tatsachen und Beweismittel bis zur Urteilsberatung.

2 Eine Klageänderung ist nur noch zulässig, wenn:

  • a. die Voraussetzungen nach Artikel 227 Absatz 1 gegeben sind; und
    b. sie auf neuen Tatsachen und Beweismitteln beruht.

Version vor dem 01.01.2025

Art. 317 Neue Tatsachen, neue Beweismittel und Klageänderung

1 Neue Tatsachen und Beweismittel werden nur noch berücksichtigt, wenn sie:

a. ohne Verzug vorgebracht werden; und
b. trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor erster Instanz vorgebracht werden konnten.

2 Eine Klageänderung ist nur noch zulässig, wenn:

a. die Voraussetzungen nach Artikel 227 Absatz 1 gegeben sind; und
b. sie auf neuen Tatsachen und Beweismitteln beruht.

Botschaften
Botschaft 2006 S. 7375

[NB : Die Botschaft bezieht sich auf eine Bestimmung, die von den Räten relativ stark abgeändert wurde: „Art. 314 Neue Tatsachen, neue Beweismittel und Klageänderung 1 Für das Vorbringen neuer Tatsachen und Beweismittel gilt Artikel 225 Absätze 2 und 3 sinngemäss. [225 "2 Danach werden neue Tatsachen und Beweismittel nur noch berücksichtigt, wenn sie ohne Verzug vorgebracht werden und: a. erst nach den ersten Parteivorträgen entstanden oder gefunden worden sind (echte Noven); oder b. bereits vor den ersten Parteivorträgen vorhanden waren, aber trotz zumutbarer Sorgfalt nicht vorher vorgebracht werden konnten (unechte Noven). 3 Hat das Gericht den Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären, so berücksichtigt es neue Tatsachen und Beweismittel bis zur Urteilsberatung." ]. 2 Eine Klageänderung ist nur zulässig, wenn sie auf neuen Tatsachen und Beweismitteln beruht. Im Übrigen gilt Artikel 226 sinngemäss."  [226 "Klageänderung 1 Eine Klageänderung ist bis und mit den ersten Parteivorträgen zulässig, sofern der geänderte oder neue Anspruch: a. mit dem bisherigen in einem sachlichen Zusammenhang steht; und b. nach der gleichen Verfahrensart zu beurteilen ist. 2 Nach den ersten Parteivorträgen ist eine Klageänderung nur noch zulässig, wenn sie zudem auf neuen Tatsachen oder Beweismitteln nach Artikel 225 Absatz 2 beruht oder wenn die Gegenpartei zustimmt. 3 Übersteigt der Streitwert der geänderten Klage die sachliche Zuständigkeit des Gerichts, so hat dieses den Prozess an das Gericht mit der höheren sachlichen Zuständigkeit zu überweisen. 4 Eine Beschränkung der Klage ist jederzeit zulässig; das angerufene Gericht bleibt zuständig." ].

Die Zulässigkeit von Noven im Berufungsverfahren ist in den kantonalen Zivilprozessordnungen unterschiedlich geregelt. Wenige Kantone schliessen jegliche Noven aus, andere lassen sie unbeschränkt zu. Die meisten Kantone hingegen beschreiten einen Mittelweg, dem der Entwurf – wie schon der Vorentwurf – im Wesentlichen folgt (Abs. 1): Nur echte Noven (Tatsachen, die erst nach dem erstinstanzlichen Entscheid entstanden sind) können ohne weiteres vorgebracht werden. Unechte hingegen (Tatsachen, die bereits zur Zeit des erstinstanzlichen Entscheids vorhanden waren) sind grundsätzlich ausgeschlossen. Besonderes gilt für Prozesse, die der Untersuchungsmaxime unterliegen. Auch in zweiter Instanz sind hier Noven bis zur Urteilsberatung möglich. Zu denken ist an Entscheide des vereinfachten und der eherechtlichen Verfahren sowie an Anordnungen der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Mit dem offenen Novenrecht wird auch dem laienfreundlichen Charakter dieser Verfahren Rechnung getragen. Hätten die Tatsachen und Beweismittel jedoch bereits bei der Vorinstanz eingebracht werden können, sind einer unsorgfältigen Partei die entstehenden Mehrkosten aufzuerlegen (Art. 108).

Novenrechtlich setzt das Berufungsverfahren somit dort ein, wo das erstinstanzliche Verfahren aufgehört hat – insofern ist es die Fortsetzung des erstinstanzlichen Prozesses. Für die Klageänderung gilt Entsprechendes, was in Abs. 2 präzisiert wird. 

(auch) unter der revZPO anwendbarBotschaft 2020

p. 2772 s.: Art. 317 Abs. 1bis

Artikel 317 Absatz 1 ZPO regelt die Berücksichtigung neuer Tatsachen und Beweismittel im Berufungsverfahren. Diese können nur beschränkt berücksichtigt werden, insbesondere nur noch dann, wenn sie ohne Verzug vorgebracht werden und trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor der ersten Instanz vorgebracht werden konnten.

Das geltende Recht sieht von diesem Grundsatz im Unterschied zum erstinstanzlichen Verfahren (vgl. Art. 229 Abs. 3 ZPO) auch keine Ausnahme vor für Verfahren, in denen das Gericht beziehungsweise die Rechtsmittelinstanz den Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären hat. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist eine analoge Anwendung von Artikel 229 Absatz 3 ZPO im Berufungsverfahren entgegen einem Teil der Lehre (So z.B. Benedikt Seiler, Zur Anwendbarkeit von Art. 229 Abs. 3 ZPO im Berufungsverfahren, SZZP 2012, 457 ff.; Martin H. Sterchi, Art. 317 N 8, in: BK ZPO, Bern 2012; Nicolas Jeandin, Art. 317 N 9, in: CR CPC, 2. Aufl., Basel 2019.) ausgeschlossen (BGE 138 III 625 E. 2.1 f. Vgl. dazu ausführlich Dieter Freiburghaus, Untersuchungsmaxime ohne Novenrecht im Berufungsverfahren nach ZPO?, in: Fankhauser/Widmer Lüchinger/Klingler/Seiler (Hrsg.), FS Sutter-Somm, Zürich 2016, S. 111 ff.): Weder die Entstehungsgeschichte noch die Systematik würden Hinweise für eine solche vom Gesetzeswortlaut abweichende Auslegung geben. Die Novenbeschränkung gelte damit trotz der Bestimmung von Artikel 247 Absatz 2 ZPO, wonach die Rechtsmittelinstanz den Sachverhalt von Amtes wegen feststellt (= sozialer oder beschränkter Untersuchungsgrundsatz), auch im vereinfachten Verfahren.

Davon zu unterscheiden sind nach Ansicht des Bundesrates demgegenüber Verfahren mit uneingeschränktem Untersuchungsgrundsatz: In diesen Fällen, in welchen die Rechtsmittelinstanz den Sachverhalt gerade von Amtes wegen «erforschen» muss (vgl. insb. Art. 296 ZPO für Kinderbelange in familienrechtlichen Angelegenheiten [vgl. dazu auch vorne die Erläuterungen] sowie auch Artikel 446 Absatz 1 ZGB für Kindes- und Erwachsenenschutzrecht), müssen neue Tatsachen und Beweismittel auch im Berufungsverfahren uneingeschränkt bis zur Urteilsberatung zulässig sein. Zahlreiche kantonale Gerichte haben bereits in diesem Sinne entschieden (Vgl. z.B. KGer BL, Entscheid vom 24. Januar 2012, 400 2011 193, E. 2; OGer ZH, Urteil vom 20. August 2014, LY140011-O, E. 2.4; OGer ZH, Urteil vom 8. Mai 2013, LC130019, E. 3.1), und zwischenzeitlich hat sich auch das Bundesgericht dieser Ansicht angeschlossen: In Verfahren mit uneingeschränktem Untersuchungsgrundsatz können die Parteien im Berufungsverfahren Noven auch dann vorbringen, wenn die Voraussetzungen von Artikel 317 Absatz 1 ZPO nicht erfüllt sind (BGE 144III 349 E. 4.2.1). In Verfahren mit uneingeschränktem Untersuchungsgrundsatz muss das Interesse an der Sachverhaltsermittlung und der materiellen Wahrheitsfindung vorgehen. Da es ja hauptsächlich um Kinderbelange geht, geht es zumindest indirekt auch um die Umsetzung der Artikel 3, 9 und 12 des Übereinkommens vom 20. November 1989 (SR 0.107) über die Rechte des Kindes.

Artikel 317 ZPO ist daher um einen neuen Absatz 1bis zu ergänzen und die (bundesgerichtliche) Rechtsprechung zu kodifizieren, wonach die Rechtsmittelinstanz neue Tatsachen und Beweismittel bis zur Urteilsberatung berücksichtigt, wenn es den Sachverhalt von Amtes wegen zu erforschen hat. Dieser Vorschlag wurde in der Vernehmlassung grossmehrheitlich unterstützt, noch vor dem genannten Entscheid des Bundesgerichts; von verschiedener Seite wurde sogar eine Ausdehnung auch auf Verfahren mit sozialem oder beschränktem Untersuchungsgrundsatz gefordert (Bericht Vernehmlassung, Ziff. 5.46).

Vgl. auch AB 2021 S 672 und 693; AB 2022 N 711 f.