Art. 229 Neue Tatsachen und Beweismittel
1 In der Hauptverhandlung werden neue Tatsachen und Beweismittel nur noch berücksichtigt, wenn sie ohne Verzug vorgebracht werden und:
a.
erst nach Abschluss des Schriftenwechsels oder nach der letzten Instruktionsverhandlung entstanden sind (echte Noven); oder
b.
bereits vor Abschluss des Schriftenwechsels oder vor der letzten Instruktionsverhandlung vorhanden waren, aber trotz zumutbarer Sorgfalt nicht vorher vorgebracht werden konnten (unechte Noven).
2 Hat weder ein zweiter Schriftenwechsel noch eine Instruktionsverhandlung stattgefunden, so können neue Tatsachen und Beweismittel zu Beginn der Hauptverhandlung unbeschränkt vorgebracht werden.
3 Hat das Gericht den Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären, so berücksichtigt es neue Tatsachen und Beweismittel bis zur Urteilsberatung.
[Kursiv: nicht angepasster Originaltext (Art. 225); die Bestimmungen wurden vom Parlament wesentlich abgeändert].
Die Hauptverhandlung beginnt mit den sog. ersten Parteivorträgen (Art. 228).
Dabei können die Parteien auch neue Tatsachen und Beweismittel vorbringen (Art. 225 Abs. 1). In Bezug auf dieses sog. Novenrecht – eine absolute Kernfrage des Prozessrechts – ist der Entwurf also offener als der Vorentwurf: Danach hätten die Parteien alle möglicherweise relevanten Tatsachen und Beweismittel bereits während des Schriftenwechsels nennen müssen. Dieses frühe Einsetzen der sog. Eventualmaxime – verbunden mit der Gefahr einer Aufblähung der Rechtsschriften – wurde in der Vernehmlassung kritisiert (vgl. Art. 215 Abs. 1 VE).
Nach den ersten Parteivorträgen geht der Prozess vom Behauptungsstadium (Sammlung des Prozessstoffes) ins Beweisstadium über. Ab diesem Zeitpunkt ist für die Zulässigkeit der Noven ein strengerer Massstab anzulegen, soll das Verfahren beförderlich durchgeführt werden (Art. 225 Abs. 2).
Ein absoluter Ausschluss wäre jedoch auch jetzt unverhältnismässig: Echte Noven dürfen weiterhin vorgebracht werden. Die Weiterentwicklungen des Lebenssachverhaltes, welcher der Klage zu Grunde liegt, muss berücksichtigt werden können, sonst führt der Prozess an der materiellen Wahrheit vorbei. Unechte Noven hingegen sind grundsätzlich unzulässig. Für alle (zulässigen) Noven gilt jedoch, dass sie jeweils sofort vorzubringen sind – zur Vermeidung dilatorischen Taktierens. Keine Beschränkung kennen demgegenüber jene Verfahren, die von der Untersuchungsmaxime beherrscht werden. Dort können neue Tatsachen und Beweismittel bis zur Urteilsberatung eingebracht werden (Art. 229 Abs. 3). Verspätetes Vorbringen ist jedoch mit Kostenauflage zu sanktionieren (Art. 108). Insgesamt ist das Novenrecht des Entwurfs somit ein Kompromiss zwischen Verfahrensstrenge und Streben nach materieller Wahrheit. Viele Kantone kennen ähnliche Regelungen.
Der Vorentwurf liess neue Tatsachen und Beweismittel ferner zu, wenn sie durch die Ausübung des gerichtlichen Fragerechts veranlasst worden sind (Art. 215 Abs. 2 VE). Dies hätte im ordentlichen Verfahren de facto zur Abschaffung des Verhandlungsgrundsatzes geführt, wie in der Vernehmlassung zu Recht kritisiert wurde. Auch die Variante, wonach ein Novum – ob echt oder unecht – immer berücksichtigt werden kann, wenn es durch Urkunden sofort beweisbar ist, stiess in der Vernehmlassung auf starke Ablehnung – zu gross wäre die Gefahr taktischer Überraschungsmanöver.