Art. 243 Geltungsbereich
1 Das vereinfachte Verfahren gilt für vermögensrechtliche Streitigkeiten bis zu einem Streitwert von 30 000 Franken.
2 Es gilt ohne Rücksicht auf den Streitwert bei Streitigkeiten:
a.
nach dem Gleichstellungsgesetz vom 24. März 1995;
b.
wegen Gewalt, Drohung oder Nachstellungen nach Artikel 28b ZGB oder betreffend eine elektronische Überwachung nach Artikel 28c ZGB;
c.
aus Miete und Pacht von Wohn- und Geschäftsräumen sowie aus landwirtschaftlicher Pacht, sofern die Hinterlegung von Miet- und Pachtzinsen, der Schutz vor missbräuchlichen Miet- und Pachtzinsen, der Kündigungsschutz oder die Erstreckung des Miet- oder Pachtverhältnisses betroffen ist;
d.
zur Durchsetzung des Auskunftsrechts nach dem Bundesgesetz vom 19. Juni 19923 über den Datenschutz;
e.
nach dem Mitwirkungsgesetz vom 17. Dezember 19934;
f.
aus Zusatzversicherungen zur sozialen Krankenversicherung nach dem Bundesgesetz vom 18. März 19945 über die Krankenversicherung.
3 Es findet keine Anwendung in Streitigkeiten vor der einzigen kantonalen Instanz nach den Artikeln 5 und 8 und vor dem Handelsgericht nach Artikel 6.
Während der ordentliche Prozess grösseren Fällen vorbehalten ist, wird das vereinfachte Verfahren – neben dem summarischen – den Gerichtsalltag bestimmen (vgl. Ziff. 2.2 und 3.2.2). Wie dem ordentlichen Verfahren geht ihm grundsätzlich ein Schlichtungsversuch voraus (Art. 197); und wie das ordentliche ist es ein einlässliches Verfahren, denn es kennt weder Beweis- noch Kognitionsbeschränkungen. Seine Merkmale sind vielmehr: Vereinfachte Formen (Art. 244), vorherrschende Mündlichkeit (Art. 245), verstärkte Mitwirkung des Gerichts (Art. 247), Beschleunigung (Art. 246), offenes Novenrecht (Art. 247 i.V.m. 229) sowie teilweise auch Kostenerleichterungen (Art. 113 f.). Das vereinfachte Verfahren ist ökonomisch und sozial zugleich: Es spielt in Angelegenheiten, für die der ordentliche Prozess zu schwer wäre, wobei die besonderen Eigenschaften vor allem der sozial schwächeren Partei zu Gute kommen sollen («sozialer Zivilprozess»). Ausserdem machen sie den Prozess laienfreundlich. Das vereinfachte Verfahren lehnt sich an entsprechende kantonale Regelungen an. Es ist der Nachfolger des sog. einfachen und raschen Verfahrens, das der Bund den Kantonen bereits heute punktuell vorschreibt (z.B. im Unterhalts-, Arbeits-, Miet- und Konsumentenrecht). Die vielen verstreuten Bestimmungen im materiellen Bundesprivatrecht können daher bereinigt werden (vgl. im Anhang Ziff. 1 [Art. 12 GlG], Ziff. 5 [Art. 274–274g, 301 und 343 OR], Ziff. 7 [Art. 47 und 48 LPG], Ziff. 14 [Art. 15 Abs. 4 DSG], Ziff. 15 [Art. 13 UWG], Ziff. 26 [Art. 15 Abs. 3 Mitwirkungsgesetz], Ziff. 27 [Art. 10 und 23 AVG], Ziff. 30 [Art. 85 Abs. 2 VAG]).
S. 7346 f.: Art. 243 Geltungsbereich. Zunächst fallen sämtliche vermögensrechtlichen Streitigkeiten darunter, solange sie einen bestimmten Streitwert nicht überschreiten (Abs. 1). Der Vorentwurf hatte die Grenze bei 20 000 Franken gezogen (Art. 237 Bst. g VE), was in der Vernehmlassung als zu tief kritisiert wurde. Daher wird sie erhöht und – nach dem geltenden arbeitsrechtlichen Vorbild (Art. 343 OR) – einheitlich auf 30 000 Franken festgesetzt. Bis zu diesem Wert gilt der einfache Prozess somit beispielsweise für:
- sachen- und erbrechtliche Angelegenheiten;
- gewöhnliche Forderungsstreitigkeiten aus OR;
- arbeitsrechtliche Ansprüche (entspricht dem geltenden Recht);
- miet- und pachtrechtliche Streitigkeiten. Diese werden somit gleich wie das Arbeitsrecht behandelt – im Unterschied zum geltenden Recht, das Miete und Pacht streitwertunabhängig privilegiert (Art. 274d Abs. 1 OR; vgl. auch Art. 237 Bst. a VE). Diese unterschiedliche Behandlung ist jedoch nicht gerechtfertigt, wie in der Vernehmlassung geltend gemacht wurde;
- konsumentenrechtliche Streitigkeiten (vgl. Art. 32). Nach geltendem Recht spielt das einfache und rasche Verfahren dort nur bis zu einem Streitwert von 20 000 Franken ;
- Streitigkeiten aus dem SchKG (z.B. Aberkennungs-, Widerspruchs-, Kollokations- und Arrestprosequierungsklagen).
Besonders sensible Materien des sozialen Privatrechts werden dem vereinfachten Verfahren hingegen auch künftig ohne Rücksicht auf den Streitwert zugewiesen (Abs. 2). Der Entwurf nennt die privilegierten Materien abschliessend:
- Hinsichtlich der Angelegenheiten nach dem Gleichstellungs-, Datenschutz-, Mitwirkungs- und Krankenversicherungsgesetz (Bst. a, d, e und f) wird geltendes Recht übernommen.
- Buchstabe b entspricht einer kürzlichen Revision des ZGB (Gewalt, Drohung oder Nachstellung im Familienkreis und in der Partnerschaft).
- Für das Miet- und Pachtrecht spielt zwar grundsätzlich die Streitwertgrenze nach Absatz 1; im Kernbereich des Mieterschutzes (Kündigungsschutz und Schutz vor missbräuchlichen Mietzinsen) soll aber weiterhin eine Ausnahme gelten (Bst. c).
- Streitwertunabhängig gilt das vereinfachte Verfahren schliesslich für die selbstständigen Klagen in Kinderbelangen (Art. 295), insbesondere also für eine Unterhaltsklage des Kindes gegen seine Eltern sowie für Klagen aus der Unterstützungspflicht der Verwandten (vgl. Art. 329 Absatz 3 ZGB). Auch dies entspricht geltendem Recht.
- Das vereinfachte Verfahren ist eine typische Prozessform für untere kantonale Gerichte. Gerade ein Einzelrichter oder eine Einzelrichterin vermag die erweiterten Kompetenzen in der (materiellen) Prozessleitung am besten zu nutzen. Nicht zur Anwendung kommt es vor der einzigen kantonalen Instanz oder vor dem Handelsgericht (Abs. 3): Die dortigen Streitigkeiten und Verfahren sind meist ohnehin zu komplex.