S. 7369 ff.
Das Rechtsmittelsystem des Entwurfs
Die Rechtsmittel bewegen sich in einem Spannungsfeld entgegen gesetzter
Interessen des Rechtsstaates. So verlangt das Ziel eines möglichst richtigen
und gerechten Urteilsein ausgebautes Rechtsmittelsystem; andererseits ruft
das Anliegen einer zeitgerechten und kostengünstigen Justiz nach einer
Beschränkung – ein zentrales Thema auch bei ausländischen Justizreformen.
In diesem unauflösbaren Interessenkonflikt beschreitet der Entwurf einen
Mittelweg. Anknüpfend an die kantonalen Systeme wird auf eine sog. Einheitsbeschwerde
verzichtet, wie sie das Bundesgerichtsgesetz neu für die Bundesrechtspflege
vorsieht. Vielmehr übernimmt der Entwurf das klassische Modell des Rechtsmittelpluralismus.
Dies wurde in der Vernehmlassung grossmehrheitlich begrüsst, zumal die
Einheitsbeschwerde in der Bundesrechtspflege ohnehin nicht rein durchgeführt
werden konnte.
Der Vorentwurf hatte drei Hauptrechtsmittel vorgesehen: die Appellation
(Art. 290 ff. VE), den Rekurs (Art. 299 ff. VE) und die Beschwerde (Art.
310 ff. VE), wobei der Rekurs als Spielart der Appellation ausgestaltet
war (appel simplifié). In der Vernehmlassung wurde angeregt, den Rekurs
zur Vereinfachung in die Appellation einzubauen. Der Entwurf nimmt diese
Kritik auf. Vorgeschlagen werden somit folgende Rechtsmittel:
– die Berufung als primäres, vollkommenes und ordentliches Rechtsmittel
(Art. 308–318);
– die Beschwerde als grundsätzlich subsidiäres, beschränktes und ausserordentliches
Rechtsmittel (Art. 319–327a);
– die Revision sowie die Erläuterung und Berichtigung als ausserordentliche
Rechtsmittel (Art. 328–334).
Dilatorische Rechtsmittel dürfen das Verfahren nicht verlängern und die
Vollstreckung nicht hinauszögern. Der Entwurf sieht daher vor, dass jedes
Rechtsmittel – Berufung, Beschwerde und Revision – sofort und ohne Stellungnahme
der Gegenpartei erledigt werden kann, wenn es offensichtlich unzulässig
oder offensichtlich unbegründet erscheint (Vorprüfung, vgl. Art. 312, 322
und 330). Zudem kann die zweite Instanz den Aussichten eines Rechtsmittels
durch Entzug bzw. Gewährung der aufschiebenden Wirkung Rechnung tragen.
Vorgaben der Bundesrechtspflege : Für den kantonalen Instanzenzug sind
gewisse Vorgaben des neuen Bundesgerichtsgesetzes zu beachten, um einen
reibungslosen Anschluss an den Rechtsweg zum Bundesgericht zu gewährleisten:
– Es gilt das Prinzip der sog. double instance (Art. 75 BGG). Danach muss
ein erstinstanzlicher kantonaler Entscheid zunächst an ein oberes kantonales
Gericht weiter gezogen werden, bevor er mit Beschwerde an das Bundesgericht
getragen werden darf.
– Der letzten kantonalen Instanz darf nicht weniger Kognition zukommen
als dem Bundesgericht (Art. 111 Abs. 3 BGG).
– In vermögensrechtlichen Streitigkeiten können Rechtsfragen grundlegender
Bedeutung dem Bundesgericht auch dann vorgelegt werden, wenn sie die Streitwertgrenzen
des Bundesgerichtsgesetzes nicht erreichen (Art. 74 BGG). Solche Streitigkeiten
müssen daher auch innerkantonal weiterziehbar sein, um dem Gebot der double
instance nachzuleben.
Diesen Vorgaben trägt der Entwurf vollumfänglich Rechnung. Danach unterliegt
prinzipiell jeder erstinstanzliche Entscheid einem innerkantonalen Rechtsmittel.
Wo die Berufung mangels Streitwertes (Art. 308) oder wegen eines Ausschlussgrundes
(Art. 309) versagt, greift immerhin die Beschwerde (Art. 319 ff.). Sie
stimmt hinsichtlich der möglichen Rügen mit der Beschwerde in Zivilsachen
überein (Art. 95 ff. BGG). Wenn das Bundesgerichtsgesetz hingegen ausnahmsweise
Spielraum für eine direkte Beschwerde an das Bundesgericht gewährt (Art.
75 Abs. 2 und Art. 77 BGG), wird dieser vom Entwurf voll ausgenutzt: So
kann der Entscheid der einzigen kantonalen Instanz (Art. 5), des Handelsgerichts
(Art. 6), des prorogierten oberen Gerichts (Art. 8) sowie eines Schiedsgerichts
(Art. 389) direkt beim Bundesgericht angefochten werden (vgl. Ziff. 2 des
Anhangs).
Art. 308 und 309 Anfechtbare Entscheide
Grundsätzlich ist jeder erstinstanzliche Entscheid der streitigen und
freiwilligen Gerichtsbarkeit (Sach- oder Nichteintretensentscheid) berufungsfähig
(Art. 308 Abs. 1). Dabei spielt keine Rolle, ob der Entscheid im ordentlichen,
vereinfachten, summarischen oder in einem familienrechtlichen Verfahren
ergangen ist. Gleichgültig ist auch, ob es sich um einen End- oder Zwischenentscheid
handelt (Art. 236 f.). Nur die prozessleitenden Verfügungen sind von vorneherein
nicht berufungsfähig: Für sie kann aber – unter gewissen Voraussetzungen
– die Beschwerde in Frage kommen (Art. 319 Bst. b). Berufungsfähig sind
insbesondere auch die Entscheide über vorsorgliche Massnahmen.
Doch kennt die Berufung wesentliche Ausnahmen:
– Sie ist unzulässig gegen Entscheide einziger kantonaler Instanzen (Art.
5–8) sowie eines Schiedsgerichts (Art. 356).
– Vermögensrechtliche Zivilsachen sind nur berufungsfähig, wenn ihr Streitwert
mindestens 10 000 Franken beträgt (Art. 308 Abs. 2). Andernfalls kommt
nur die Beschwerde in Frage (Art. 319 ff.). Der Mindeststreitwert wird
im Vergleich zum geltenden kantonalen Recht etwas erhöht (die meisten Kantone
gehen von 8000 Franken aus). Doch ist er – anders als nach Vorentwurf (Art.
290 Abs. 2 VE) – nicht nach dem sog. Gravamen (
danach wird der Streitwert nach der Differenz zwischen den zuletzt aufrecht
erhaltenen Rechtsbegehren und dem erstinstanzlichen Urteil bestimmt. Nach
dieser Methode verfahren die Kantone BL und BS
) zu berechnen, sondern es gilt der Betrag, der im Zeitpunkt des erstinstanzlichen
Urteils noch streitig war. Das Gravamensystem blieb in der Vernehmlassung
sehr umstritten, denn es beschränkt den Zugang zum Rechtsmittel zusätzlich.
Auch in der parlamentarischen Beratung des Bundesgerichtsgesetzes hat es
sich nicht durchsetzen können. Da es widersprüchlich wäre, den Streitwert
für das kantonale Rechtsmittel anders zu berechnen als für die Beschwerde
an das Bundesgericht, ist auf dieses System zu verzichten. Immer berufungsfähig
sind dagegen die nichtvermögens-rechtlichen Zivilsachen (z.B. Statussachen).
– Die Streitwertgrenze gilt auch für die Anfechtung vorsorglicher Massnahmen,
die in einer vermögensrechtlichen Angelegenheit verfügt werden, und für
den Arrest nach SchKG: So ist der Einspracheentscheid mit Berufung anfechtbar,
wenn der Wert des Arrestobjekts mindestens 10 000 Franken beträgt (Art.
278 Abs. 3 E-SchKG; Ziff. 17 des Anhangs); andernfalls greift die Beschwerde
(Art. 319 ff.).
– Nicht berufungsfähig sind sodann eine Reihe Entscheide, die im summarischen
Verfahren ergangen sind (Art. 309), nämlich jene des Vollstreckungsgerichts
(Bst. a) und bestimmte betreibungsrechtliche Angelegenheiten (Bst. b).
Diese Fälle drängen auf rasche Erledigung. Bei einer definitiven Rechtsöffnung
beispielsweise liegt in der Regel bereits ein rechtskräftiger Entscheid
vor, und bei der provisorischen kann der Schuldner oder die Schuldnerin
alle Einwände mit der Aberkennungsklage vortragen. Ein vollkommenes Rechtsmittel
ist daher nicht notwendig. Doch unterliegen diese Entscheide der Beschwerde
(Art. 319 ff.; vgl. Ziff. 17 des Anhangs).
– Schliesslich kann die Berufung auch aufgrund einer besonderen Vorschrift
des Entwurfs entfallen: so etwa für die selbstständige Anfechtung des Kostenentscheids
– selbst wenn die Hauptsache berufungsfähig wäre (Art. 110).